Wohnen auf Probe: "Jetzt weiß ich, dass ich es schaffen kann"
Im Herbst 2020 startete die Lebenshilfe Seelze das „Wohntraining“, ein in Niedersachsen einzigartiges Projekt. Es richtet sich an Erwachsene mit Behinderung, die noch bei ihrer Familie, in einer Wohnstätte oder einer betreuten Wohngruppe zu Hause sind, aber den Wunsch nach einem Leben in den eigenen vier Wänden haben.
Die Teilnehmenden erfahren in praxisnah aufgebauten Seminaren alles Wichtige über die Wohnungssuche, über Rechte und Pflichten von Mietern, den Möbelkauf, die Planung von Einkäufen, Kochen, Haushaltsführung und Tagesstruktur oder den Umgang mit Geld. Auf die Theorie folgt die Praxis: Pascal Vortmüller war der Erste, der Anfang dieses Jahres die Trainingswohnung am Barnemarkt in Wunstorf für vier Wochen bezog. Der 30-Jährige arbeitet in der Werkstatt der Lebenshilfe Seelze, am Empfang im Werk 4. Er dachte schon länger darüber nach, in eine eigene Wohnung zu ziehen. Um herauszufinden, ob diese Wohnform zu ihm passt, meldete er sich für das Wohntraining der Ambulanten Dienste an.
„In den Seminaren haben wir viel gelernt. Ich war gut vorbereitet“
„In den ersten beiden Tagen war mir ein bisschen mulmig, so allein in ungewohnter Umgebung“, räumt Vortmüller ein. „Aber das Gefühl ging ganz schnell vorbei, dann habe ich mich echt wohl gefühlt.“ Pünktlich aufstehen, Frühstück machen, die Fahrt zur Arbeit, Einkaufen und Abendessen, Haushalt und Freizeitgestaltung –das habe er alles gut alleine hingekriegt. „In den Seminaren haben wir viel gelernt; das Bedienen der elektrischen Geräte wie Waschmaschine, Mikrowelle, Fernseher, Kühlschrank oder Herd. Ich war gut vorbereitet.“ Hilfestellung erhielt Pascal Vortmüller von den Fachkräften der Ambulanten Dienste: Zwei- bis dreimal die Woche kamen die Lebenshilfe-Fachkräfte Mark Ormerod, Tim Reuper und Kathrin Schümann im Wechsel bei ihm vorbei.
Er hat Mut gefasst
„Bei meinen Besuchen habe ich geschaut, in welchen Bereichen Pascal Unterstützung benötigt“, erklärt Mark Ormerod. Zunächst hätten sie zusammen die Gegend kennen gelernt und Einkaufsmöglichkeiten erkundet, hin und wieder auch gemeinsam eingekauft und gekocht. Pascal habe sich schnell in der neuen Wohnsituation zurechtgefunden und sogar Besuch in „seiner“ Wohnung empfangen.
„Die Schulungen und Workshops dienen aber nicht allein der Vorbereitung, sagt Ormerod. „Die Theorie ist auch wichtig für uns, um einzuschätzen, ob die Teilnehmenden schon so weit sind, den Alltag in einer eigenen Wohnung bewältigen zu können, oder ob sie sich damit überfordern.“ Bei Pascal trat das Gegenteil ein: Er hat Mut gefasst.
„Jetzt weiß ich, dass ich es schaffen kann, allein zu wohnen.“
„Es war gut, dass ich das Alleinwohnen ausprobieren konnte. Vorher hatte ich einige Bedenken, ob ich es wirklich schaffe. Jetzt weiß ich, dass ich es hinkriege“, sagt Pascal Vortmüller – zumindest am Anfang mit der Unterstützung durch das Team vom Ambulant Betreuten Wohnen. Mittlerweile ist er seinem Traum einen großen Schritt nähergekommen. Pascal hat eine Wohnung in Aussicht, der Umzug in die eigenen vier Wände steht bevor.
Sobald es die Pandemie wieder zulässt, werden die nächsten Kandidatinnen und Kandidaten in der Trainingswohnung Praxiserfahrung sammeln. Eine Teilnehmerin ist im Frühjahr in eine Wohngemeinschaft am Maschsee gezogen. Und der Vierte aus dem Quartett braucht noch ein wenig mehr Zeit auf der Suche nach der für ihn geeigneten Wohnform. So oder so ist das Wohntraining es für alle Teilnehmenden eine wichtige Erfahrung – alle kommen der Entscheidung ein Stück näher.
Die Trainingswohnung in Wunstorf
Die Trainingswohnung in Wunstorf mit Küche, Bad und Balkon hat drei Schlafplätze und kann je nach Bedarf als Single-Wohnung (ca. 50 qm) oder als Paar-/WG-Wohnung (ca. 70 qm) genutzt werden. Die 2019 renovierte Wohnung ist barrierefrei und per Aufzug zugänglich. Sie liegt in der ersten Etage, direkt über dem Beratungszentrum der Lebenshilfe Seelze.