"Leitplanken für ein respektvolles Miteinander"
Wann wird aus Gewohnheit Übergriffigkeit? Und wie kann ein respektvoller Umgang sichergestellt werden? Seit Ende 2024 gilt bei der Lebenshilfe Seelze ein Gewaltschutzkonzept, das klare Regeln für den Alltag in allen Einrichtungen und Angeboten definiert. Denn Gewalt und Machtmissbrauch haben viele Gesichter – von scheinbar harmlosen Bemerkungen bis hin zu körperlicher Übergriffigkeit oder unangemessener Machtausübung.

Überall, wo Menschen eng zusammenarbeiten, wo Vertrauen, Nähe und persönliche Bindung eine große Rolle spielen, kann es zu Grenzüberschreitungen kommen. Ein beiläufiges „Na Mausi, wie geht’s dir heute?“, ein achtloses Schulterstreicheln, eine unangemessene Bestrafung – die Grenzen sind fließend, die Grauzone breit, die Dunkelziffer hoch. Und auch wenn die überwältigende Mehrheit der Fach-, Betreuungs- und Pflegekräfte mit hoher Professionalität und Verantwortung agiert, schützt das nicht vor unbeabsichtigten oder unbemerkten Grenzverletzungen im Alltag.
Ein Konzept, das auf Prävention setzt
Um solche Situationen möglichst gar nicht erst entstehen zu lassen, hat die Lebenshilfe Seelze in den vergangenen drei Jahren an einem Schutzkonzept gearbeitet. Seit Ende 2024 gibt es in allen Bereichen der Lebenshilfe Seelze sogenannte Verhaltensampeln, die Orientierung im Umgang mit Nähe, Sprache, Berührungen und Machtverhältnissen bieten. „Es geht um Prävention und Sensibilisierung“, erklärt Claudia Wille von der Lebenshilfe Seelze. „Unser Konzept setzt klare Regeln –Leitplanken für ein respektvolles und umsichtiges Miteinander auf Augenhöhe.“
Ein zentraler Punkt dabei ist der Perspektivwechsel: Jeder Mensch hat individuelle „Schmerzgrenzen“. Was für die eine Person eine harmlose Geste ist, kann für eine andere übergriffig oder verletzend sein. Deshalb hat die Lebenshilfe in den vergangenen Monaten viel Wert daraufgelegt, alle Mitarbeitenden – vom Vorstand bis zu den Betreuungskräften in den Einrichtungen – zu schulen. Dabei ging es um das bewusste Hinterfragen und Einordnen des eigenen Verhaltens sowie um die Reflexion eingefahrener Routinen.
Mehr als ein Regelwerk: Eine gemeinsame Haltung
„Unser Schutzkonzept beschreibt unsere Haltung zum Schutz der Menschen, die wir begleiten, die bei uns wohnen oder hier arbeiten“, erklärt Wille. Ziel sei es, Gewalt in all ihren Erscheinungsformen – ob körperlich, psychisch, sexualisiert oder strukturell – frühzeitig zu erkennen, zu verhindern und im Ernstfall professionell zu bearbeiten. Dabei richtet sich der Blick nicht nur auf offensichtliche Gewalt, sondern auch auf subtilere Grenzverletzungen, etwa respektlose Sprache, übergriffiges Verhalten im Alltag oder das Missachten persönlicher Grenzen.
Strukturen schaffen, um handlungsfähig zu sein
Das Schutzkonzept der Lebenshilfe Seelze umfasst mehrere Bausteine:
- eine klare Haltung gegen Gewalt in jeder Form,
- verbindliche Verhaltensregeln, insbesondere für den Umgang mit Nähe, Distanz und Assistenzleistungen,
- regelmäßige Schulungen und Fortbildungen für Mitarbeitende zur Sensibilisierung und Reflexion,
- sowie einen Ablaufplan für den Fall, dass ein Verdacht auf Gewalt, Machtmissbrauch oder Grenzverletzungen besteht.
Klare und eindeutige Kommunikation: Menschen mit Behinderung sollen wissen, an wen sie sich wenden können, wenn sie sich unwohl fühlen oder ein Problem ansprechen möchten. „Nur wenn diese Abläufe definiert und allen Beteiligten bekannt sind, kann im Ernstfall schnell und verantwortungsvoll gehandelt werden“, sagt Wille.
Ein Schutzmechanismus – wichtiges Signal auch nach außen
Das Gewaltschutzkonzept soll aber auch einen weiteren Zweck erfüllen: Abschreckung. Potenzielle Täter*innen suchen sich gezielt Bereiche aus, in denen Nähe und Abhängigkeit bestehen – etwa in der Pflege, in der Behindertenhilfe oder in der Kinder- und Jugendarbeit. Bereits der Hinweis auf ein konsequent umgesetztes Schutzkonzept kann abschreckend wirken. „Mit unserem Schutzkonzept wollen wir ein klares Signal setzen und potenzielle Täter und Täterinnen abschrecken“, betont Cordula Wilberg, pädagogischer Vorstand der Lebenshilfe Seelze. „Wir tragen große Verantwortung – in allen Bereichen, in allen Einrichtungen. Sowohl Betreute als auch Angehörige müssen sich hundertprozentig auf uns verlassen können.“
Der Anspruch ist klar: Null-Toleranz gegenüber Gewalt – nicht nur als Haltung, sondern sichtbar und verbindlich im Alltag. „Vertrauen ist das höchste Gut“, betont Wilberg. „Und jeder Betreute muss sich darauf verlassen können. Das Schutzkonzept hebt unseren Anspruch auf ein neues, verbindliches Niveau und bezieht alle mit ein.“
Eine Kultur der Achtsamkeit leben
Ein gut durchdachtes Schutzkonzept zeigt sich nicht nur in Abläufen und Regeln, sondern in der gelebten Alltagskultur. In einer Atmosphäre der Offenheit, der gegenseitigen Wertschätzung – und dem Mut, auch unangenehme Themen anzusprechen. Gewaltprävention beginnt dort, wo Achtsamkeit zum festen Bestandteil des Miteinanders wird.
Was ist Gewalt?
Gewalt kann viele Formen haben. Besonders dort, wo Menschen unterschiedlich viel Macht haben, kann es schneller zu übergriffigem Verhalten kommen – zum Beispiel, wenn Mitarbeitende darüber bestimmen, was getan wird, und andere davon abhängig sind. Gewalt bedeutet, dass jemand einem anderen seinen Willen aufzwingt – gegen dessen Wünsche oder Bedürfnisse. Dabei fehlt es an Respekt und Rücksicht. Das kann unterschiedlich aussehen: etwa durch Drohungen, durch Ignorieren, durch zu festes Anfassen, Schlagen, Kneifen oder Schubsen. Auch Beschimpfungen, Gerüchte, abwertende Sprache, Zwang beim Essen oder das Vorenthalten von Essen sind Formen von Gewalt. Wichtig ist: Gewalt ist nicht immer laut oder sichtbar – auch leise und alltägliche Übergriffe können verletzend und belastend sein.
Gemeinsam für mehr Schutz und Achtsamkeit – wie die Lebenshilfe Seelze ihr eigenes Schutzkonzept entwickelt hat
Wer ein Schutzkonzept gegen Gewalt und Grenzverletzungen auf den Weg bringt, übernimmt Verantwortung. Die Lebenshilfe Seelze hat auf diesem Weg alle mit ins Boot geholt. Seit 2022 arbeiteten Fachkräfte aus allen Bereichen, Menschen mit Beeinträchtigung, Selbstvertreter*innen, Leitungskräfte und der Vorstand gemeinsam daran, klare Regeln und einen achtsamen Umgang miteinander festzulegen.
In der Kita ging es sogar schon ein Jahr früher los. Der Anspruch war von Anfang an hoch: kein Konzept „von der Stange“, sondern eins, das zur Lebenshilfe Seelze und den Menschen passt. Begleitet von einer externen Beratungsfirma haben sich Teams aus allen Bereichen – Werkstatt, Frühförderung, Autismusambulanz, Schulbegleitung, Kita, Wohnen, Berufsbildung und Verwaltung – regelmäßig getroffen. In Workshops, Schulungen und Arbeitsgruppen wurde offen gesprochen, kritisch hinterfragt und gemeinsam formuliert: Was ist okay? Wo fangen Grenzverletzungen an? Wie wollen wir miteinander arbeiten und umgehen? Ein Ergebnis ist der Verhaltenskodex in Ampelform. Klar verständlich, alltagsnah und für jeden Bereich angepasst – so hilft er allen, sich zu orientieren und Sicherheit im Umgang miteinander zu gewinnen.
„Das Thema geht alle an“, sagt Projektleiterin Claudia Wille. „Deshalb war es uns wichtig, dass wirklich alle mitreden und mitgestalten konnten. So entstand ein Konzept, das gelebt und von allen mitgetragen wird.“ Und das spürt man: Der Prozess hat nicht nur Regeln geschaffen, sondern auch das Miteinander gestärkt – und das ist vielleicht der größte Erfolg.