Auszeiten vom Alltag

Xavier lebt in Dauerpflege bei Familie Otto im Wunstorfer Ortsteil Luthe. Seit Oktober 2021 betreut Anna-Lena Sasse, Mitarbeiterin im Familienunterstützenden Dienst der Lebenshilfe Seelze, den Zweijährigen einmal pro Woche stundenweise zu Hause.

Die Freude über den Besuch von Anna-Lena Sasse ist dem kleinen Xavier deutlich anzusehen. Der Zweijährige strahlt über das ganze Gesicht. Voller Vertrauen und Zuneigung begegnet er dem augenscheinlich beliebten Gast. Kein Wunder, die Mitarbeiterin des Familienunterstützenden Dienstes der Lebenshilfe und der fröhliche Junge mit Mehrfachbehinderung sind ein eingespieltes Team. Wobei „eingespielt“ wörtlich zu nehmen ist.

Xavier ist gern in Bewegung und sprüht nur so vor Energie. „Mit vier Monaten ist Xavier zu uns gekommen. Vorher war er in der Bereitschaftspflege“, erzählt Susanne Otto. Bereitschaftspflege – in dieser Pflegeform werden Kinder vorübergehend untergebracht, wenn sie nicht bei ihren Eltern aufwachsen können.

Xaviers Vater ist unbekannt, die Mutter nicht in der Lage, sich um ihn zu kümmern. Das Jugendamt hat damals bei Susanne Otto angefragt, ob sie sich vorstellen könne, den Kleinen in Dauerpflege aufzunehmen, der Fachbegriff lautet: sonderpädagogische Vollzeitpflege. Das war zunächst nicht Ottos Plan, da sie bereits zwei Pflegekinder mit einer Behinderung großgezogen hat: Giuliana (23) und Skurta  (21). Die beiden aufgeschlossenen, selbstbewussten und sympathischen Frauen arbeiten in der Werkstatt der Lebenshilfe Seelze und wohnen noch zu Hause.

„Das Jugendamt hat eine Familie gesucht, die für alles, auch mögliche Defizite des Kindes, offen ist und viel Erfahrung mitbringt“, erzählt Otto. „Wir haben uns darauf eingelassen.“ Danach ging alles ganz schnell, drei Wochen Anbahnung, und plötzlich gehörte Xavier zur Familie. „Er hat nur kurz gebraucht, dann war er hier richtig zuhause“, sagt Otto. Geliebt, umsorgt und gefördert von seiner (Pflege-)Mutter und seinen beiden (Pflege-)Schwestern.

„Es ist, wie es ist. Und Xavier ist eine unglaubliche Frohnatur“

Dass der Junge eine halbseitige Lähmung, Hirndefekte und Epilepsie hat, zeichnete sich zunächst nicht ab. Bei der U4 galt er als vermeintlich gesundes Kind. „Bis dahin erfolgten keine weiterführenden Untersuchungen, obwohl er weder den Kopf gedreht noch sonst irgendetwas gemacht hat“, sagt Otto. Erst nach und nach seien die Beeinträchtigungen aufgefallen und diagnostiziert worden. Offenbar hatte er im Mutterleib eine Hirnblutung und hat zusätzlich einen Gendefekt. Insbesondere seine Epilepsie ist belastend für alle, die Angst vor dem nächsten Anfall nimmt der Familie ein Stück weit die Unbeschwertheit. „Er ist zwar medikamentös eingestellt, aber ein Anfall alle vier Wochen, das wird uns wohl auch künftig begleiten“, sagt Otto. Ansonsten sei ihr in erster Linie wichtig, dass Xavier keine lebensverkürzende Diagnose habe. Mit allem anderen könne sie leben und es annehmen. „Es ist, wie es ist. Und Xavier ist eine unglaubliche Frohnatur.“

Rückschläge hin oder her, Susanne Otto erfreut sich vor allem an den kleinen Fortschritten. „Essen war am Anfang sehr schwierig. Es hat lange gedauert und viel Geduld erfordert, bis er vom Löffel gegessen hat – jetzt klappt das prima. Er kann sich inzwischen auch alleine hinsetzen, für ihn ist das ein großer Gewinn an Lebensqualität.“ Mit seinen neu angepassten Orthesen und an der Hand von Anna-Lena Sasse läuft Xavier derweil durchs Haus. Bälle jeglicher Art sind für ihn der Hit.

Auch auf dem Hintern rutschend kommt er schnell voran. Der Zweijährige macht einen glücklichen und zufriedenen Eindruck. Und ebenso wie Kinder ohne Behinderung genießt er es, wenn die volle Aufmerksamkeit ihm gehört und alles nach seinen Wünschen läuft. Sasse weiß um seine Vorlieben und beschäftigt sich intensiv mit dem Jungen. Xavier spricht zwar nicht, versteht aber vieles und kann sich mit Lauten und Gesten verständlich machen.

Ein freier Nachmittag pro Woche ist Gold wert

Einfach Zeit im Garten verbringen oder eine Verabredung mit einer Freundin – für Susanne Otto ist dieser eine freie Nachmittag pro Woche, den ihr der zwei- bis dreistündige Besuch der Mitarbeiterin des Familienunterstützenden Dienstes beschert, Gold wert. Zwischen Xavier und Anna-Lena Sasse hat es von Beginn an gefunkt, „die beiden haben sich sofort gut verstanden, das funktioniert super“, sagt Otto. Sie weiß ihn also in den besten Händen. Der dreifachen Mutter geht es aber nicht allein um eine Auszeit im anstrengenden Alltag. Etwas ganz Wesentliches kommt hinzu: „Wenn mit mir mal etwas sein sollte, kann Frau Sasse notfalls einspringen. Sie ist für Xavier eine wichtige Bezugsperson, die er kennt und mag. Und sie wiederum ist mit Xavier vertraut, kann ihm bei einem epileptischen Anfall auch das Notfallmedikament geben – das ist für mich sehr beruhigend.“

Zweimal die Woche bekommt Xavier auch Frühförderung durch die Fachkräfte der Lebenshilfe Seelze. Ab August soll er in den Kindergarten gehen. „Xavier ist dann genau im richtigen Alter für die Kita. Der Kontakt zu Gleichaltrigen ist enorm wichtig. Und nur eine heilpädagogische Kleingruppe wäre sinnvoll, als I-Kind in irgendeinem anderen Kindergarten würde er untergehen“, sagt Susanne Otto. Die Alternative wäre eine Tagesmutter mit Zusatzausbildung.